Stephan Nagel
Selbsthilfe, Selbstorganisation und politische Mobilisierung wohnungsloser Menschen
Die Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichte im letzten Jahr eine Protestchronik Deutschlands von 1949 bis 2020 (Langebach 2021). Auf 467 Seiten werden in dieser Publikation übergreifende Themen, Persönlichkeiten und vor allem beispielhaft: mehr als 90 Protestereignisse und Bewegungen in Ost und West skizziert - Proteste von Wohnungslosen bzw. zum Problem der Wohnungslosigkeit sind nicht verzeichnet. Erklärlich ist dies, weil politische Mobilisierung und Proteste zum Thema Wohnungslosigkeit in der Bundesrepublik nicht häufig auftreten, meist lokal begrenzt und kurzlebig sind. Die Nöte, Themen und Protestanlässe wohnungsloser Menschen können oft nur schwer an allgemeine gesellschaftliche Themen und die vorherrschenden Protestmilieus anknüpfen.
Wohl kaum eine Gruppe hat größere Schwierigkeiten bei der politischen Mobilisierung und Selbstorganisation zu überwinden als wohnungslose Menschen. Verarmung, Ausgrenzung und die Erfordernisse der Organisation des täglichen (Über)Lebens, ob in städtischer Unterkunft oder auf der Straße, lassen wenig Platz . für Organisationsprozesse. Es mangelt dafür an wesentlichen Ressourcen: Geld, Räumen, politischer Erfahrung, Zugang zu Bündnispartnern und zum politischen System. Weiterhin sind Lebenslagen und Herkunft wohnungsloser Menschen diverser denn je: Die Gemeinsamkeiten von langjährig auf der Straße lebenden Menschen etwa mit jugendlichen, jugendkulturell geprägten Wohnungslosen, mit geflüchteten Familien, mit wohnungslosen EU-Bürger:innen, die häufig einer Lohnarbeit nachgehen, oder Frauen in Frauenhäusern sind eher gering. Die Unterschiede aufgrund von Nationalität, Dauer der Wohnungslosigkeit, Lebensalter und Familiensituation (alleinstehend oder Verantwortung für Kinder) erschweren gemeinsame Handlungsansätze erheblich. Gruppen,die aufgrund von verbinden der Herkunft, Hautfarbe, Behinderung, sexueller Orientierung/Identität diskriminiert werden, können sich leichter in Hinsicht auf diese Merkmale organisieren, denn sie können oder wollen diese Merkmale nicht hinter sich lassen. Sie können Anerkennung, Versorgung, Gleichberechtigung und Emanzipation aufgrund oder trotz dieser Merkmale erstreiten. Bei der Wohnungslosigkeit hingegen sollte es nicht darum gehen, Anerkennung, Würde und Unterstützung in der besonderen Lebenssituation zu erreichen, sondern Wohnungslosigkeit sollte so schnell wie möglich beseitigt werden. Insgesamt sind also die Artikulations-, Mobilisierungs-, Organisations- und Durchsetzungsfähigkeiten (Willems/Wimer, 2000: 14) wohnungsloser Menschen und Gruppen gering. Für sie ist es schwierig, gemeinsame Deutungsrahmen (Snow et al. 1986) zu entwickeln, der Zugang zum formalen lnteressenvermittlungssystem der Parteien und Parlamente ist kaum gegeben. Die „politischen Gelegenheitsstrukturen" sind insgesamt ungünstig (Tarrow 1982).
Und doch gibt es trotz aller Schwierigkeiten Selbsthilfe, Selbstorganisation und Protestmobilisierung von und mit wohnungslosen Menschen in Deutschland; es gibt Projekte von und unter Beteiligung wohnungsloser Menschen und Partizipationsansätze in Projekten Sozialer Arbeit.
Selbsthilfe, Selbstorganisation und die Organisation des Überlebens
Gemeinhin selten wahrgenommen und anerkannt sind die vielfältigen vor allem informellen Formen der Selbsthilfe und Selbstorganisation armer Menschen. Wenn „erfindungsreiche Strategien alltäglicher Subsistenzsicherung" (Preußer 1989: 58) kollektiv in der Wohnungslosigkeit das Überleben, das Einkommen, die Unterkunft und Sozialleistungen teilen, erstreiten, organisieren oder erbetteln, dann entstehen Formen des Aktivismus und der Selbstorganisation, die oft übersehen, abgewertet, diskriminiere oder gar sozial-, ordnungs- bzw. strafrechtlich sanktioniere werden.
Verstärkt seit den rot-grünen Reformen der Grundsicherung („Hartz IV") sind die Zugänge in das soziale Sicherungssystem erschwert und abschreckend, oft auch beschämend, gestaltet worden. Hohe Anforderungen an Flexibilität und Initiative, das Prinzip „fordern und fordern" und die an Arbeitsmarktintegration ausgerichtete Existenzsicherung haben viele wohnungslose Menschen von der Grundsicherung ausgeschlossen. Die engen und auch prozedural weiter erschwerten Zugänge für EU-Bürger:innen in das soziale Sicherungssystem haben diese Armut und auch absolute Armut in Deutschland verschärft. Historisch marginalisiert geglaubte Phänomene wie Armenspeisungen, Lebensmittelvergabe, Kleiderkammern und Betteln erleben eine Renaissance. In Hamburg zum Beispiel hat sich die Zahl der obdachlos auf der Straße lebenden Menschen zwischen 2009 und 2018 auf 1.910 Personen fast verdoppele. Der Anteil der Obdachlosen, die Sozialleistungen oder Rente bezogen, hat sich auf nur noch 28,3% halbiert. 14,3% der Befragten verfügten über gar kein Einkommen. Prekäre Einkommen aus Tätigkeiten wie Flaschensammeln, Betteln, Verkauf von Straßenzeitungen, Prostitution oder Unterstützung durch ihr soziales Umfeld sind für insgesamt 37,1% der Befragten Obdachlosen das Haupteinkommen. [1] Die Ergebnisse dieser Befragungen belegen, dass prekäre Überlebens- und Reproduktionsstrategien von obdachlos auf der Straße lebenden Menschen erheblich an Bedeutung gewonnen haben.
Gegenseitige Unterstützung bei der Durchsetzung von Sozialleistungen durch Beratung und Begleitung, gemeinsames „Platte machen", der Bau von Zelten, Verschlägen und Unterständen als Witterungsschutz, die Versorgung in Nischen auf dem grauen Wohnungsmarkt, die Organisation in Gruppen zur preiswerteren Pendelmigration, gegenseitiger Schurz und Unterstützung beim Betteln, Austausch und Unterstützung auf inoffiziellen Tagelöhnermärkten, Beteiligung an Straßenzeitungsverkauf; all dies sind kollektive Formen der Selbsthilfe und Überlebenssicherung, die teilweise diffamiert und kriminalisiert werden als: „Bettelmafia", „Horrorhäuser", „Schrottimmobilien", „Sozialhilfebetrug" [2], Arbeiterstrich" (dazu Riedner 2018), „Schwarzarbeit", „Menschenhandel" oder "Schandfleck".
Politische Proteste und Mobilisierung
Bislang ist eine umfassende Aufarbeitung, Analyse und Würdigung politischer Proteste und Bewegungen wohnungsloser Menschen in Deutschland nicht erfolgt. Eine unsystematische Sichtung politischer Protestaktionen wohnungsloser Menschen zeigt, dass diese oft an akuten Missständen in der unmittelbaren Lebenswelt anknüpfen und sich häufig an der staatlichen Repression einfachen Überlebenshandelns entzünden.
Es finden sich Proteste gegen die Räumung von Schlafstätten obdachloser Menschen [3], politische Mobilisierung für ein Bleiberecht von „Obdachlosensiedlungen" [4], Proteste gegen Vertreibung von „Straßenszenen" und gegen restriktive Straßensondernutzungsregelungen [5], gegen die Verhängung von Ordnungsstrafen wegen Nächtigens im öffentlichen Raum [6], für einen offenen Zugang zur Notunterbringung oder für bessere Standards in Notunterkünften.[7] Aber auch weiterreichende Themen wie Versorgung mit Wohnraum, Wohnungspolitik, eine Verbesserung des Hilfesystems [8] oder Zugang zu Arbeit [9] sind Anlässe bzw. Ziele dieser Proteste. Kundgebungen, Demonstrationen, Mahnwachen, Sleep-Outs sind die überwiegenden Aktionsformen, aber auch Aktionen Zivilen Ungehorsams und begrenzter Regelverletzungen, wie Störung von Sitzungen eines Kommunalparlamentes und Hausbesetzungen, finden statt. Dabei gibt es sowohl Proteste, die weitgehend allein von wohnungslosen Aktivist:innen initiiert und getragen wurden, als auch solche, die stärker durch politische Unterstützer:innen aus der kritischen Öffentlichkeit und des Wohnungslosenhilfesystems erfolgten und die von „Betroffenen" unterstützt werden.
Selbsthilfe und Projekte
Sei es auf Initiative Betroffener oder aus dem professionellen Wohnungsnotfallhilfesystem heraus, es ist eine Fülle von Projekten entstanden, die wohnungslosen und armen Menschen eine Stimme geben (Straßenzeitungen), Überlebenshilfen organisieren (Treffpunkte, Kleider- und Trödelkammern) und Arbeitsplätze für wohnungslose Menschen geschaffen haben (Gartenarbeit, Umzugshilfen, Kleintransporte). Manchmal konnten einigermaßen geeignete arbeitsmarktpolitische Instrumente von Trägern sozialer Arbeit oder aus Selbsthilfeinitiativen dafür unterstützend genutzt wurden. Seltener mit der Schaffung von Erwerbsmöglichkeiten verbunden sind Projekte der ermächtigenden Gemeinwesenarbeit, der politischen Bildung (Obdachlose als Führer durch „ihre" Stadt, Radioprojekte), der Soziokultur (Musik und Theaterprojekte).[10] Beispiel für ein ermächtigendes und therapeutisches Kulturprojekt ist eine von Gerd Arland getragene Theatergruppe, deren Grundsatz es war, „eigen Erlebtes in schauspielerischer Form auf die Bühne zu bringen" (Güra 2006: 93). Die Theatergruppe „Obdach!-Fertig!-Los!" hatte ab 1994 zunächst unter der „fördernden Obhut der Einrichtung, dann als eingetragener Verein" (ebd.) in 20 Jahren mit einer Gruppe von Wohnungslosen, ehemals Obdach- und Wohnungslosen, Trinkern und Hartz-I V-Empfängern in wechselnder Besetzung mit etwa 15 Amateurschauspieler:innen sieben Theaterstücke entwickelt und auf die Bühne gebracht.
Partizipation
Über Partizipation, verstanden als Beteiligung der von Wohnungslosigkeit Betroffenen „an Entscheidungen über die Planung und Dienstleistungserbringung sozialer Dienste" (Specht 2010: 58), ist in den Wohnungsnotfallhilfen verstärke in den vergangenen 10 Jahren diskutiert worden. Dabei sind die programmatischen Beiträge vergleichsweise zahlreich [11] während eine befriedigende Umsetzung der diskutierten Ansätze in die Praxis schwierig und nicht allzu häufig zu sein scheint (Gerull 2017, 2018). Obwohl für die Partizipation „gewichtige philosophische, politische und rechtliche Gründe geltend gemacht werden können, scheitert Partizipation bisher oft an einem traditionellen Hilfeverständnis und an den unterschiedlichen Milieubindungen der Beteiligten." (Szynka 2014: 84) Hürden bilden mangelnde Aufgeschlossenheit bei den Professionellen, unpassende Formate, hohe Fluktuation der Nutzer:innen v.a. in Beratungsstellen und niedrigschwelligen Einrichtungen. Erfahrungen mit den vorgeschlagenen Ansätzen bleiben nicht selten hinter den Erwartungen zurück. Die professionellen Unterstützer sind in Gefahr, die Partizipation mit Ansprüchen zu überfrachten oder für ihre organisationsbezogenen oder politischen Ziele zu funktionalisieren.
Wichtige Marksteine für die allmähliche Etablierung der Partizipation in den Wohnungsnotfallhilfen in Deutschland waren die Vertretung eines Mitglieds der „Bundesbetroffeneninitiative" (Rolf Bünger) im Vorstand des bundesweiten Fachverbands BAGW seit den 1990er Jahren, die Veröffentlichung einer Empfehlung (BAGW 2015), Fachtagungen, die Einrichtung einer Arbeitsgemeinschaft Partizipation in der BAGW 2015 sowie die Einrichtung eines „Fonds zur Förderung und Unterstützung der unabhängigen Teilnahme aktuell oder ehemals von Wohnungslosigkeit betroffener Menschen" im Jahr 2019, finanziert über zusätzliche Mitgliedsbeiträge (Jordan 2019).
Bundesweite Selbstvertretung Wohnungsloser
Nach dem Ansatz der „Bundesbetroffeneninitiative (BBI)" seit Anfang der 1990er Jahre ist die „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen" (SWM) der zweite Versuch, eine Interessenvertretung wohnungsloser Menschen mit bundesweiter Ausstrahlung zu entwickeln. Seit 2016 fanden sechs „Wohnungslosentreffen" in wechselnden Einrichtungen der stationären Wohnungshilfe in Deutschland statt, die bundesweit wohnungslose Menschen in Kontakt und Austausch brachten. Ausgehend von einem kleinen Kreis Aktiver, die teilweise aus bereits bestehenden Zusammenhängen stammten (Armutsnetzwerk e.V., Berberinfo, HOPE) und einer Initiative der Wohnungslosenhilfe Freistatt (Bethel) trafen sich in diesen Jahren jeweils um die hundert wohnungslose bzw. ehemals wohnungslose Menschen zum Austausch, zur Vernetzung, zu politischer Bildung und Debatte und auch zur Freizeitgestaltung.[12] Von dem Ansatz eines einwöchigen Treffens haben sich verstärkt Nutzer:innen stationärer Einrichtungen oder anderer Wohnprojekte der Wohnungslosenhilfe ansprechen lassen. Jüngere, Frauen, nichtdeutsche Wohnungslose und akut obdachlos auf der Straße lebende wohnungslose Menschen waren unterrepräsentiert (Benz/Toens 2022: 16).
Ermöglicht harte diese Treffen zunächst das Projekt „Teilhabe und Selbstorganisation", angesiedelt in Freistatt. Unter anderem mit Mitteln der Aktion Mensch wurde eine „Koordinierungsstelle der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen/ Wohnungslosentreffen" geschaffen, die die großen jährlichen Wohnungslosentreffen "und die dazwischen stattfindenden Arbeitstreffen des aktiven Kerns vorbereitete. In der Koordinierungsstelle wurden drei Personen beschäftigt, zwei Betroffene und ein von Wohnungslosigkeit nicht betroffener Sozialwissenschaftler.[13] Im Jahr 2019 wurde ein Verein gegründet, um eine Weiterarbeit mit dem Ziel des Aufbaus einer „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen" mit bundesweiter Bedeutung und Ausstrahlungskraft auf eine rechtlich sichere Grundlage zu stellen. Toens und Benz sehen in ihrer Analyse der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen als „prägende Elemente" der bisherigen Praxis die „Vermittlung von 'Expert*innen aus Erfahrung' in Gremien, Medien, Anhörungen, parrizipative Lehr- und Forschungsprojekte" (ebd.: 18). Durch den Zusammenschluss in einer Gruppe und die Erarbeitung gemeinsamer Positionen, können sich wohnungslose Menschen „auf einen Raum beziehen, der größer ist als ihre individuell biographische Erfahrung" (Schneider 2021: 126) und dadurch im besten Fall politisch handlungsfähig werden.
Verflechtungen: Selbsthilfe, Selbstorganisation und Projekte der Wohnungsnotfallhilfen
Die unterschiedlichen Formen kollektiven Handelns wohnungsloser Menschen sind oft miteinander verschränkt, gehen in einander über bzw. entwickeln sich von der einen zur anderen Form. Und sie sind häufig eng mit Initiativen aus dem professionellen Wohnungsnotfallhilfesystem verknüpft. Neben der oben skizzierten Entstehung der „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen" ist die Geschichte der Selbsthilfegruppe „Oase" dafür ein Beispiel im lokalen Rahmen: Im Nachgang zu hamburgischen Aktivitäten im Kontext der bundesweiten von der BAG Wohnungslosenhilfe im Jahr 1993 initiierten „Nacht der Wohnungslosen"[14] gründete sich die Selbsthilfegruppe „Oase", der bald 18 Personen angehörten. Sich gegenseitig Unterstützung zu geben, Begleitung und Beratung von Betroffenen, Aufklärung, Öffentlichkeitsarbeit sowie Anmietung von Wohnraum formulierte die Gruppe als ihre Ziele (Müller/Orban, 1993: 49). Im September 1993 forderte die Selbsthilfegruppe in einer öffentlichen Stellungnahme u.a. ein besseres Winternotprogramm in Hamburg sowie Wohnungen für wohnungslose Menschen (taz hamburg 4.9.1993). Noch im Gründungsjahr wurde die Selbsthilfegruppe von einer Projektgruppe des Diakonischen Werkes angesprochen, ob sie bei der in Gründung befindlichen nach dem Vorbild der Londoner „Big lssue" konzipierten Straßenzeitung „Hinz&Kunzt" mitmachen wolle. Ein Teil der Aktiven der Selbsthilfegruppe stieg in dieses Projekt ein, übernahm den Vertrieb der Zeitung und stellte die ersten Verkäufer. Durch die Zusammenarbeit der Oase mit dem populären Straßenzeitungsprojekt gewann die Gruppe an Ansehen u nd Bekanntheit, positionierte sich politisch und wurde vom Sozialausschuss der Hamburger Bürgerschaft eingeladen (Müller/Orban 1995: 50). Im Laufe der Zeit ging dieser Teil der Selbsthilfegruppe jedoch im von Journalist:innen und Sozialarbeitenden dominierten Straßenzeitungsprojekt auf und verschwand als politischer Akteur. Die nicht zum Projekt Hinz&Kunzt gewechselten Personen gründeten einen selbstorganisierren Treffpunkt mit Beratungsangebot, einem warmen Mittagessen, Waschmöglichkeit und einer Kleiderkammer. Mit Arbeitsmarktinstrumenten wurden einige Arbeitsplätze geschaffen und Wohnungen an Wohnungslose vermietet. Da die Stadt nicht bereit war, über den Mietzuschuss hinaus die Arbeitsstellen dauerhaft zu finanzieren, und der Verein nicht bereit war, seinen Mitarbeitenden zu kündigen, um neue Mitarbeitende mit neuer Arbeitsamtsförderung einzustellen, mussten schließlich die Löhne mit Spenden, Flohmarktaktionen und ähnlichem erwirtschaftet werden. Dies gelang nur wenige Jahre, so dass dann der Verein Oase 2004 seinen Treffpunkt schließen und den Mitarbeitenden kündigen musste.[15]
Persönlichkeiten, Bewegungsunternehmer
Sabine Ruß (2005: 339) hat in ihrer Analyse der großen Bewegungen zur Wohnungslosigkeit in den USA und Frankreich auf die wichtige und durchaus ambivalente Rolle charismatischer Persönlichkeiten in diesen beiden Ländern hingewiesen (Mitch Snyder - der „Einzelkämpfer"; Abbe Pierre - der „zornige Prophet"). Nun gibt es in Deutschland weder national bekannte, charismatische Persönlichkeiten noch politische Bewegungen zum Thema Wohnungslosigkeit, die mit den historischen Bewegungen in den USA und Frankreich vergleichbar wären.
Dennoch spielen auch im kleinen Rahmen der Selbstorganisation wohnungsloser Menschen, ähnlich wie in fast allen anderen gering strukturierten und ressourcenschwachen Initiativen oder sozialen Bewegungen, einzelne Persönlichkeiten eine große Rolle. Sie bringen ihre Kompetenzen, ihre Energie und Leidenschaft ein, halten die organisatorisch schwache Gruppe zusammen, übernehmen Verantwortung, ergreifen Initiativen, treiben voran. Diese wichtige und unverzichtbare Rolle einzelner Personen in informellen Zusammenhängen birgt aber eine Reihe von Fallstricken: Die Handlungsfähigkeit und Stabilität der Gruppe ist in hohem Maße von diesen wenigen Personen abhängig. Noch stärker als in Initiativen des „middle class radicalism" finden in Gruppen Wohnungsloser Menschen mit geringer politische Erfahrung zusammen, die aber meist ausgeprägte belastende Lebenserfahrungen mitbringen. So können Konflikte, gerade persönlich geprägte Konflikte und Idiosynkrasien einzelner Personen, seien es wohnungslose oder unterstützende Aktivist:innen, den Zusammenhalt einer Gruppe schnell gefährden.
Unterstützung durch Soziale Arbeit, Verbände, Parteien, Kirchen
Die prekäre und ressourcenschwache Verfasstheit der Selbstorganisation wohnungsloser Menschen macht sie in besonderem Maße abhängig von der Unterstützung durch andere, seien es Institutionen der Sozialarbeit, Verbände, Kirchen, andere Bewegungen oder Bürgerrechtsorganisationen. Der Unterstützungsbedarf erstreckt sich auf die Bereitstellung von Ressourcen (Geld, Räume), organisatorische, politische und rechtliche Beratung, wissenschaftliche Expertise, Unterstützung beim Verfassen von Texten sowie Vermittlung von Bündnispartnern und Kontakten in das politisch-administrative System. In einer Untersuchung von 15 kleineren US-amerikanischen Organisationen wohnungsloser Menschen wurde festgestellt, dass dreiviertel ihrer Ressourcen von karitativen, bürgerrechtlichen und kirchlichen Unterstützungsorganisationen stammten (Cress/Snow 1996).
Diese Organisationen und ihre Vertreter:innen haben eigene Interessen und unterliegen spezifischen Handlungszwängen. Es kommt darauf an, bei der Unterstützung der Selbstorganisation Wohnungsloser diese offenzulegen und möglichst weitgehend zurückzustellen. Nur dann kann es gelingen, bei der Ermutigung, Förderung und Unterstützung der Selbstorganisation deren Eigenlogiken, Themen und Ziele zu achten, paternalistische Übergriffe und politische Funktionalisierungen zu vermeiden.
Ausblick
Seit vielen Jahren besteht in der Öffentlichkeit eine sympathisierende Aufmerksamkeit für die Nöte und Probleme wohnungsloser Menschen, und wohl niemand würde ernsthaft argumentieren, dass das Anliegen Wohnungsloser, Wohnraum zu erhalten, nicht legitim sei. Die extreme Form der Wohnungslosigkeit, die Obdachlosigkeit findet in der Öffentlichkeit vor aller Augen statt. Aber Sichtbarkeit, Sympathie, moralische Legitimität der Anliegen und gute Argumente haben offensichtlich nicht ausgereicht, die Interessen, die einer Beseitigung der Wohnungslosigkeit im Wege stehen, zu überwinden. Statt eine entschieden soziale Wohnungspolitik zu entwickeln, wurde das Problem vor allem an die Soziale Arbeit delegiert.
Nun hat sich die aus SPD, Grünen und FDP gebildete Bundesregierung – eine Initiative des europäischen Parlaments aus 2020 aufgreifend - im Ende 2021 geschlossenen Koalitionsvertrag (2021: 71) das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2030 die Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überwinden, dafür will sie einen Nationalen Aktionsplan auflegen. Damit ist zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Überwindung der Wohnungslosigkeit auf der politischen Agenda einer Bundesregierung. Dies wird (unterstützt von der erstmalig im Sommer 2022 veröffentlichten Wohnungslosenstatistik) auch zu einer deutlich größeren Anerkennung und Bedeutung des Themas in der Öffentlichkeit führen. Das Vorhaben nährt die Erwartung, dass die Bundesregierung nun für dieses Ziel auch ein umfassendes und wirksames Handlungsprogramm entwickelt, und es weckt Hoffnungen auf eine Verbesserung der Situation. Darüber hinaus weckt es die Hoffnung, dass durch die Vergrößerung des Resonanzraumes auch die Stimmen kollektiver Akteure wohnungsloser Menschen gestärkt und besser gehört werden.
Literatur
- BAGW 2015: Empfehlung: Mehr Partizipation wagen. Förderung und Unterstützung von Partizipation in der Wohnungslosigkeit, Berlin https://www.bagw.de/fileadmin/bagw/media/Doc/POS/POS_15_Empfehlung_Partizipation.pdf
- Benz, B./Toens, K. 2022: Interessen wohnungsloser Menschen im Spannungsfeld von Anwaltschaft, Mitbestimmung und Selbstvertretung. In: WSI Mitteilungen Nr. 1/2022: 12- 19
- Bundesagentur für Arbeit 2022: Arbeitshilfe: „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit" Nur für den internen Dienstgebrauch,
https://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/archiv/neune-arbeitshilfe-bekaempfung-von-bandenmaessigem-leistungsmissbrauch-im-spezifischen-zusammenhang-mit-der-eu-freizuegigkeit.html - Cress, D. M./Snow, D. A. 1996: Mobilization at the Margins: Resources, Benefactors, and the Viability of Homeless Social movement Organizations, in: American Sociological Review, Vol. 61: 1089-1109
- Eimertenbrink, M. 2012: Straßenzeitung, Stadtführungen, Obdachlosenuni & Co. Wohnungslose gemeinsam Aktiv!, Berlin https://gangway.de/strassenzeitung-stadtfuehrungen-obdachlosenuni-co-wohnungslose-gemeinsam-aktiv-2/
- Gerull, S. 2017: Partizipation in der Wohnungslosenhilfe, in: wohnungslos Nr. 4/2017: 113-117
- - 2018:„Spaghetti oder Reis?" Partizipation in der Wohnungslosenhilfe, Berlin -Milow - Strasburg
- - 2010: Selbsthilfe wohnungsloser Menschen. Ein strapazierter Begriff macht Karriere. In: Soziale Arbeit Nr. 10 /2020: 374-380
- Güra, C. 2006: Obdach-Fertig-Los. Hamburgs erstes Obdachlosentheater. In: wohnungslos Nr. 3/2006: 93-95
- Herbst, K.; Schneider, S. 2003: Selbsthilfe: Chaotische Professionalität. In: wohnungslos Nr. 2/2003: 93-96
- Jordan, R. 2019: Mehr Beteiligung in der Wohnungslosenhilfe. Aktuelle Entwicklungen in Fragen der Betroffenenbeteiligung im Hilfesystem und im Verband. In: wohnungslos, Nr. 4/2019: 130-133
- Kämper, A.; Ratzka, M. 2018: Befragung obdachloser, auf der Straße lebender Menschen und wohnungsloser, öffentlich-rechtlich untergebrachter Haushalte 2018 in Hamburg. Auswetungsbericht, Hamburg https://www.hamburg.de/contentblob/12065738/5702405ed386891a25cdf9d4001e546b/data/d-obdachlosenstudie-2018.pdf
- Koalitionsvertrag 2021-2025: Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90 /Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP), Berlin https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf
- Langebach, M. (Hg.) 2021: Protest. Deutschland 1949 - 2020, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
- Müller, A.; Orban, M. 1995: Obdachlosenhilfe zwischen Sinnstiftung und Vermarktung, Hamburg, Ambulante Hilfe e.V. Praxis und Sozialplanung Nr. 5 http://www. wohnungslose.de/daca/Publikationen/ Heft%20S.pdf
- Nagel, S.; Rieckmann, H.-J. 1999: Grenzen des sozialarbeiterischen Standpunktes. Anmerkungen zum Konflikt um „Trinkersatzungen". In:wohnungslos Nr 4, S. 161-164
- Preußer, N. 1989: Not macht erfinderisch. Überlebensstrategien der Armenbevölkerung seit Beginn des 19. Jahrhunderts, München - Wien
- Riedner, L. 2018: Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um die EU-Migration. Eine Untersuchung zwischen Wissenschaft und Aktivismus, Münster
- Schmidt, K. 2018: Ordinary Homeless Ciries? Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Rio de ]aneiro und Hamburg, Diss. Hamburg http://ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2018/9252/pdf/Dissertation.pdf
- Schneider, S. 2021: Platte, Plenum, Politik. Selbstvertretung wohnungsloser Menschen als Herausforderungen für Akteure und Unterstützende. In:SozialExtra 2/2021: 122-127
- Snow, D.A.; Rochford, Jr. E. B.; Worden, S. K.; Benford, R. D. 1986: Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation, in: American Sociological Review, Vol. 51, No. 4, S. 464-481
- Specht, T. 2010: Thesen zu Partizipation, Selbstorganisation und Selbsthilfe wohnungsloser und von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen. In: wohnungslos Nr.2:58-59
- Szynka, P. 2014: Partizipation in der Wohnungslosenhilfe. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit Nr. 3/2014: 84-91
- Tarrow, S. 1982: Struggling to Reform: Social Movements and Policy Change During Cycles of Protest, Cornell (Occasional Papers No.15)
- Willems, U.; von Winter, T. 2000: Die politische Repräsentation schwacher Interessen: Anmerkungen zum Stand und zu den Perspektiven der Forschung. In: dies. (Hg.): Politische Repräsentation schwacher Interessen, Opladen: 9-38
Stephan Nagel
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Anmerkungen
- Kämper: Ratzka 2018: 34f. Arbeitslosengeld I. II, Sozialhilfe, Rcnte als Haupteinkommensquelle sind bei Obdachlosen von 58,0% in 2009 auf 28,3% in 2018 zurückgegangen. Betteln als Haupteinkommensquelle nahm in diesem Zeitraum von 6,6% auf 9,3% zu.
- Die Arbeitshilfe der Bundesagentur für Arbeit "Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im spezifischen Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit" sieht zum Beispiel fehlerfrei ausgefüllte SGB II Anträge trotz schlechter Sprachkenntnisse als Hinweis auf Sozialbetrug. (Bundesagentur für Arbeit 2022: S. 4)
- Z.B.: Proteste in München (Riedner 2018); in Berlin z.B.Tiergarten 2017, in Hamburg „Zaunkonflikt" im September 2011 (Schmidt 2018: 270 - 272)
- In: Berlin Rummelsburger Bucht 2020/21, in Hamburg Stresemannstr. (2013)
- Protestaktionen, Demonstration und Klage von Punks gegen eine „Trinkersatzung" in Elmshorn 1989 (Nagel; Rieckmann 1999)
- Dortmund 11/2018; Düsseldorf 2/2019
- München 3/2016; Hamburg 30.10.2014, 9.2.2019; Hamburg 13.1.2021
- Berlin 1/2019, Hamburg 2/2019, aber nicht nur in Großstädten, sondern z.B. auch Mönchengladbach 9.3.2018
- München 2016, 2018
- Maik Eimertenbrink (2012) hat eine Fülle von Praxisbeispielen zusammengestellt. Siehe auch den Bericht von Herbst und Schneider (2003) über den Berliner Verein „mob e.V.".
- Für das Agendasetting in der Wohnungslosenhilfe in diesen Jahren sind v.a. die Beiträge von Rolf Bünger, Stefan Gillich, Doris Kölz, Roland Saurer, Stefan Schneider, Peter Szynka in der Zeitschrift wohnungslos und anderen Publikationsorten hervorzuheben.
- Die Programme, Arbeitsergebnisse, Erklärungen zum Selbstverständnis, die weiteren Vorhaben etc. können auf zwei Websites eingesehen werden: https://www.wohnungslosentreffen.de/; https://wohnungslosentreffen.org /
- Aus der Perspektive des bis 2/2022 Projektverantwortlichen (Schneider: 2021) gibt es eine kompakte und instruktive Übersicht über die Geschichte, den Assistenzansatz, die Arbeitsmethoden und auch die Konflikte der Arbeit der Koordinierungsstelle Selbstvertretung wohnungsloser Menschen.
- Am 25.6.20193 fanden bundesweit im Rahmen der „Nacht der Wohnungslosen" in etwa 120 bundesdeutschen Städten sleep-ours statt. In Hamburg kamen „kaum 100 Personen auf den Gerhardt-Hauptmann Platz" taz 28.6.1993 https://taz.de/!1610773/
- Hamburger Abendblatt 24.12.2003; taz Hamburg 6.4.2004 https://taz.de/!691220/