Guten Tag, nachfolgenden Text meiner geschätzten Kollegin Marisa Geiser verbreite ich gerne. Solidarische Grüße, Stefan
Das problematische Narrativ von "Bettelhunden"
Marisa Geiser-Krummenacher
PhD Candidate in Social Work 👩🎓 | President 4marine.life ⛵ | Human-Animal-Bond 🐕 | Homelessness 🏚️ | One Health 🌍 19. Dezember 2024
Gestern Abend leitete mir der Kollege Stefan Schneider von der Wohnungslosen_Stiftung den ich aus dem Forschungsnetzwerk Wohnungslosigkeit kenne eine Petition mit dem Titel "Beenden Sie den Missbrauch von Bettelhunden auf unseren Straßen" (https://www.change.org/p/beenden-sie-den-missbrauch-von-bettelhunden-auf-unseren-stra%C3%9Fen) weiter. Erstaunt war er insbesondere über die grosse Anzahl der Unterstützer*innen mit über 12'000 Unterschriften.
Schockiert hat mich vor allem der Petitionstext und die vielen Kommentaren darunter. Es ist die Rede von "Bettelmafia" und von "sedierten Hunden" die "grossem Leid ausgesetzt" sind. Die Kommentator*innen haben anscheinend zwei Stunden lang die bettelnden Menschen in der Kälte beobachtet und wie der Hund "qualvoll an der Leine zurück gezogen wurde" - wer ethnografisch forscht, weiss, dass zwei Stunden in der Kälte beobachten kein Zuckerschlecken sind und dies wohl kaum jemand einfach so in seiner Freizeit freiwillig macht (ausser verrückte Doktorand*innen).
Ich kann hier nur für die Schweiz und mein kleines Forschungssampling reden. Da ich jedoch auch immer wieder von Obdachlosigkeit betroffene Tierhaltende aus Deutschland und Spanien in der Schweiz antreffe, hat es vielleicht doch eine gewisse Übertragbarkeit. Zudem kenne ich die Studienlandschaft zu dem Thema aus dem europäischen Raum wie auch der USA, Kanada und Australien sehr gut.
Noch nie habe ich bei meinen Feldaufenthalten sedierte oder gequälte Hunde angetroffen und auch nie über so etwas in einer Studie gelesen. Bei einem ähnlichen Kommentar unter einem Post von mir bezeichnete Christophe Blanchard, der zu dem Thema in Frankreich promoviert hat, dieses Narrativ als eine "urban legend", die noch nie wissenschaftlich bestätigt wurde.
Auch die angesprochene Dehydration ist zumindest in der Schweiz mit öffentlich zugänglichem Trinkwasser kein Thema. Überall steht immer ein Wassernapf für die Hunde bereit. Ein grobes Leinenziehen habe ich tatsächlich auch schon beobachtet. Das treffe ich aber auch bei jedem zweiten Spaziergang mit meinem Hund in unserem Quartier an. Mit Betteln hat dieses Problem also wenig zu tun. Der grösste Teil geht sanft mit ihren Hunden um und trägt ein Hundegeschirr statt Halsband.
Dass bei jeder Tageszeit und ohne Schutz vor Kälte, Sonne oder Regen mit Hunde gebettelt wird, kann ich so auch nicht bestätigen. Zumindest mein Feldaufenthalt bei dem ich drei Stunden durch die Kälte gestapft bin und keinen einzigen obdachlosen Menschen mit Tier angetroffen habe, deutet auf ein anderes Narrativ. Auch Strategien zum Schutz vor der Sonne haben viele der von Obdachlosigkeit betroffenen Tierhaltenden. Bei der Aussage stört mich vor allem, dass sich weder in dem Text noch in den Kommentaren jemand Sorgen um die Menschen macht, für die diese Aussetzung der Umweltbedingungen genauso gesundheitsschädlich ist. Wer meine Arbeit verfolgt, weiss, dass ich diese in einem Rahmen des One Health Ansatzes setze und genau auf diese Problematik achte.
Nun zur "Bettelmafia" die auch von den Medien gerne zerrissen wird. Dieses Narrativ der kriminellen organisierten "Bettelmafia" widerlegte Zsolt Temesvary, PhD in seiner Forschung zu Armutsreisenden aus Osteuropa. Die Kirchliche Gassenarbeit Bern fordert deshalb zurecht in ihrem Haltungspapier Betteln einen differenzierten Umgang mit dem Thema Betteln. Darin schreiben sie "Diskriminierende und rassistische Diskurse sind zu ächten, vor allem im Bereich der Politik und medialen Berichterstattung."
Leider sind nicht alle Organisationen so differenziert und ich habe an anderen Orten selbst von Sozialarbeitenden stigmatisierende Aussagen gehört wie "die Sinti*zze und Rom*nja würden ihre Hunde ja nur zum Betteln ausbeuten". Eine solche Haltung ist gefährlich und zeigt der tief verankerte Antiziganismus, der die Soziale Arbeit mit dem Hilfswerk Kinder der Landstrasse aka Pro Juventute bis heute noch prägt. Als Nachkomme von Jenischen durfte ich dieses tiefe rassistische Verwurzelung auch in Supervisionen oder Aussagen von Kolleg*innen schmerzhaft erfahren. Schliesslich sieht man mir ja meine Herkunft nicht an, wieso als das Blatt vor den Mund nehmen.
Ich möchte nicht verneinen, dass es nicht Menschen gibt, die ihre Hunde ausnutzen und schlecht behandeln - bei von Obdachlosigkeit betroffenen Menschen genau so wie bei der behausten Bevölkerung. Die Studienlage zeigt jedoch, dass es sich hierbei nicht um die Mehrheit handelt. Zwei veterinärmedizinische Studien aus England von David Leonhard Williams / Sarah Hogg (2016) und Louise Scanlon / Pru Hobson-West / Kate Cobb / Anne McBride / Jenni Stavisky (2021) fanden sogar heraus, dass die Hunde der von Obdachlosigkeit betroffenen Haltenden öfters geimpft, entwurmt und gegen Flöhe behandelt waren, als die Hunde der Haltenden mit festen Wohnsitz. Zudem litten sie aufgrund der vermehrten Bewegung weniger an Übergewicht.
Wer sich um das Wohl der Tiere auf der Strasse sorgt, der sollte viel mehr nach Lösungen suchen, wie das Wohl von Mensch und Tier gemeinsam gesichert werden kann. Wie schaffen wir es beispielsweise, dass soziale Institutionen und Ämter die Wichtigkeit der Mensch-Tier-Beziehung anerkennen und die notwendige Unterstützung anbieten und Zugangshürden zum Hilfesystem aufgrund der Tiere abschaffen. Mit meiner Arbeit versuche ich auf genau diese Problematiken aufmerksam zu machen.
Bildbeschreibung:
Um das Narrativ zu brechen, habe ich ein Bild vom Centre for Homelessness Impact gewählt, welches eine Datenbank führt mit nicht-stereotypisierenden Bildern von wohnungslosen Menschen. Das Bild zeigt Damian mit seiner 7-jährigen Hündin Elsa, die ihm eine wichtige Stütze im Umgang mit PTSD, Depression und Angststörungen aus seiner ehemaligen Tätigkeit im Royal Logistic Corps ist. Beigetragen von Stacey Kelly.