Schuhe vor Zelt in Pankow   Foto Stefan SchneiderGuten Tag,

heute möchte ich informieren über eine Pressemitteilung von Mittwoch, dem 17.07.2024 aus dem Berliner Bezirk Pankow, in dem auch der Szenebezirk Prenzlauer Berg liegt.

Der hier geschilderte Sachverhalt könnte auch an beliebigen anderen Orten in Deutschland spielen, er hat also eine allgemeine Bedeutung. Im Anschluss daran findet ihr meinen Kommentar.

Beides darf gerne weiter verbreitet werden.

Gruß, Stefan


Schwerpunkteinsatz zur Beräumung von „Obdachlosencamps“

https://www.berlin.de/ba-pankow/aktuelles/pressemitteilungen/2024/pressemitteilung.1468210.php

Pressemitteilung vom 17.07.2024

Über die Zentrale Anlauf- und Beratungsstelle erreichen das Ordnungsamt Pankow immer wieder Beschwerden zu wohnungslosen Personen, die sich im öffentlichen Straßenland oder in Grünanlagen dauerhaft niederlassen. Im Zuge dessen ist wiederkehrend eine Vermüllung der betreffenden Örtlichkeiten zu beobachten und insbesondere in der wärmeren Jahreszeit häufen sich die Beschwerden auch im Hinblick auf eintretende Geruchsbelästigungen. Aufenthaltsorte sind regelmäßig die Schönhauser Allee unter dem Viadukt, am S-Bahnhof Greifswalder Straße und verschiedene Grünanlagen wie beispielsweise der Helmholtzplatz sowie der Blankensteinpark.

Im Jahr 2024 hat das Ordnungsamt bisher insgesamt 30 Einsätze im öffentlichen Straßenland durchgeführt. Bei weiteren 10 Einsätzen in Grünanlagen wurde das örtlich zuständige Straßen- und Grünflächenamt von Dienstkräften des Ordnungsamtes unterstützt. Nach erfolgter Feststellung entsprechender Örtlichkeiten durch die Mitarbeitenden des Außendienstes, wird das im Bezirk maßgebliche Meldeverfahren in Gang gesetzt und alle zuständigen Dienststellen über den Sachverhalt informiert. In der Folge wird den wohnungslosen Menschen durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter der Berliner Help-Stiftung vor Ort Beratung sowie die Vermittlung in Regelunterkünfte angeboten. Werden entsprechende Unterstützungsleistungen von den Betroffenen nicht in Anspruch genommen und die unerlaubte Niederlassung im öffentlichen Raum nicht zeitnah beendet, wird in Abstimmung mit der Berliner Stadtreinigung, dem zuständigen Polizeiabschnitt und der Berliner Help-Stiftung ein Termin vereinbart, um die betreffende Örtlichkeit von Sperrmüll und Unrat zu säubern. Etwa fünf Tage vor dem vereinbarten Termin wird durch das Ordnungsamt eine Räumungsaufforderung nach dem Berliner Straßengesetz oder dem Grünanlagengesetz vor Ort übergeben bzw. hinterlegt. Der Außendienst des Ordnungsamtes ist bei entsprechenden Aktionen jeweils mit bis zu drei Mitarbeitenden vor Ort und hat hierfür in diesem Jahr bislang rund 90 Einsatzstunden aufgewendet. Die Berliner Stadtreinigungsbetriebe haben in diesem Zusammenhang bislang etwa 25m³ Sperrmüll bzw. Unrat eingesammelt. Im vergangenen Jahr beliefen sich die Einsatzstunden des Allgemeinen Ordnungsdienstes auf etwa 150 Einsatzstunden und das Volumen eingesammelten Sperrmülls auf ca. 35m³. Im Vorfeld entsprechender Maßnahmen wird den Betroffenen selbstverständlich Gelegenheit gegeben, Ihre persönlichen Dinge zu sichern.

„Obdachlosigkeit ist ein schwerer Schicksalsschlag, von dem leider auch im Bezirk Pankow Menschen betroffen sind. Sichtbar wird dieses Großstadtproblem in der Öffentlichkeit, wenn von Obdachlosigkeit betroffene Menschen ihren dauerhaften Schlafplatz in Grünanlagen oder dem öffentlichen Straßenland finden. Dies geht leider regelmäßig mit zunehmender Müllkonzentration an diesen Orten einher, was Beschwerden durch Anwohnerinnen und Anwohner zur Folge hat. Deshalb waren das Ordnungsamt sowie das Straßen- und Grünflächenamt dieses Jahr bereits dreißigmal im Einsatz, um gegen solche Müllablagerungen vorzugehen. Selbstverständlich werden den von Obdachlosigkeit betroffenen Menschen zuvor Hilfsangebote durch die Berliner Help-Stiftung unterbreitet. Sollten sie diese nicht in Anspruch nehmen, wird vor der Räumung eine ausreichende Frist gesetzt zur Sicherung von persönlichem Hab und Gut. Auch weiterhin setzen wir uns im Bezirk Pankow sowie in Stadt und Land Berlin ein, um das Problem der Obdachlosigkeit zu lösen und Betroffenen Hilfe anzubieten“, so Manuela Anders-Granitzki, Bezirksstadträtin für Ordnung und Öffentlicher Raum.


Kommentar

Zu dieser Pressemitteilung ist aus meiner Sicht festzuhalten:

  1. Obdachlose Menschen sind in der Regel deshalb draußen, weil sie die zwangsgemeinschaftlichen Massennotunterkünfte als menschenunwürdig ablehnen. Zwangsgemeinschaftliche Massennotunterkünfte sind oft Orte der Gewalt. Gut zwei Drittel der obdachlosen Menschen berichten von negativen Erlebnissen und Gewalterfahrungen in Notübernachtungen (siehe: Zeit für Gespräche: Fokusgruppenbericht zum Thema Notübernachtungen 2023 https://zeitdersolidaritaet.de/ergebnisse/zeit-fuer-gespraeche-11-fokusgruppen-zum-thema-notuebernachtungen/)

  2. Ursache der kritisierten "Vermüllung" sind in der Regel nicht die obdachlosen Menschen selbst, sondern sehr häufig Menschen aus der Nachbarschaft, die irgendwelche Dinge (abgetragene Kleidung, heruntergekommene Matratzen, defekte Möbel aber auch Lebensmittelreste und weiteres mehr) ungefragt dazu stellen. Das berichtet André Hoek (https://www.facebook.com/hoek.andre) in seinem Buch "Unter freiem Himmel. Wie ich obdachlos wurde und den Weg zurück ins Leben fand. Riva, München 2022 (ISBN 978-3-7423-2201-2) auf den Seiten 157-164 (Abschnitt: Räumungen und Vertreibungen"). Andere Nachbarn beschweren beschweren sich dann über die Vermüllung der Nachbarschaft und machen obdachlose Menschen dafür verantwortlich. André Hoeck macht in seinem Buch deutlich, dass gerade Menschen auf der Straße, die lebenslagebedingt nur über wenig Hab- und Gut verfügen, schon wegen der Erhaltung der Gesundheit sehr genau auf Hygiene achten müssen. Das bestätigt auch Janita Juvonen (https://janitas-blog.jimdofree.com/), die mehr als ein Jahrzehnt obdachlos auf der Straße leben, in ihrem Buch "Die Anderen – die Harte Realität der Obdachlosigkeit. Voima Verlag, Horgen, Schweiz 2023", (ISBN 978-3-907442-31-9)

  3. Dass öffentliche und kostenfreie Toiletten in der Innenstadt nur unzureichend vorhanden sind, ist hinlänglich bekannt. Wenn obdachlose Menschen beispielsweise in der Schönhauser Allee unter dem U-Bahn-Viadukt ihren Schlafplatz aufsuchen, dann möglicherweise deshalb, WEIL in der Nähe ein öffentlich zugängliches kostenloses Urinal vorhanden ist (Ecke Cantianstraße). Wenn es an anderen Lagerorten obdachloser Menschen stinkt, dann würde eine Abhilfe vielleicht kurzfristig daran bestehen, eine Dixie-Toilette aufzustellen und langfristig für ein dichteres Netz an öffentlich zugänglichen Toiletten zu sorgen - statt obdachlose Menschen als vermeitliche Verursacher zu vertreiben. Im übrigen sind Wohnungen serienmässig mit Toiletten ausgestattet.

  4. Die hier angesprochene sozialarbeiterische Beratung hat obdachlosen Menschen kaum was anderes anzubieten als freundliche Worte und den Hinweis auf Angebote, die obdachlose Menschen entweder schon kennen und als menschenunwürdig ablehnen, da zwangsgemeinschaftliche Massennotunterkünfte häufig Orte der Gewalt sind, in denen auch viele Freiheitsrechte massiv eingeschränkt sind. Der Verweis auf sozialarbeiterische Angebote täuscht darüber hinweg, dass der Bezirk und die Stadt ihrer eigentlichen Aufgabe, obdachlose Menschen mit Wohnungen zu versorgen, nicht hinreichend nachkommt. Dabei stehen genug Wohnungen leer, allein in Berlin 40.000 Wohnungen (siehe https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbraucher/mikrozensus-wohnraum-leerstand-100.html).

  5. Von ihrem Selbstverständnis her sollte die Sozialarbeit eine Menschenrechtsprofession sein, die im Fall von Obdachlosigkeit am Menschenrecht auf Wohnung zu orientieren hätte. Die hier dargestellte Kooperation mit den repressiven Organen der Staatsgewalt bei der Vorbereitung und Durchführung der Räumung durch Polizei und Ordnungsamt stellt die Glaubwürdigkeit der Sozialarbeit und ihrer ethischen Grundlagen in Frage. Und noch mehr: Ein Vertrauensaufbau zu Akteuren Sozialer Arbeit ist massiv gestört, wenn Sozialarbeiter:innen nur die Begleiter:innen einer bereits beschlossen Räumung sind. Weil sie Erfahrungen dieser Art permanent machen (Platzverweise, anlasslose Kontrollen,  und weiteres mehr) ist es naheliegend, dass obdachlose Menschen einer versuchten Ansprache vorsichtshalber aus dem Weg gehen.

  6. Es wäre durch Juristen zu klären, ob Räumungen von Schlafplätzen obdachloser Menschen im öffentlichen Raum überhaupt zulässig sind, wenn die angebotenen Massennotunterkünfte als menschenunwürdig abgelehnt werden sind und wenn der Bezirk angemessene Wohnungen - die ja vorhanden wären, siehe oben - nicht zur Verfügung stellen kann. Auch wäre die Frage durch Juristen zu klären, ob es sich bei der Räumung - soweit es das Eigentum obdachloser Menschen und nicht den dazugestellten Müll betrifft - um einen bewaffneten Raub (wenn Polizei dabei ist) oder zumindest Diebstahl durch das Ordnungsamt handelt, der strafrichtlich zu verfolgen wäre. Es ist bekannt, dass obdachlose Menschen aus Angst vor weiteren Repressionen oder schlichtweg aus Unkenntnis der Rechtslage mögliche Rechtsmittel eher selten oder nicht einlegen.

  7. Die Aussage der Sozialstadträtin Manuela Anders-GranitzkiManuela Anders-Granitzki (CDU), Obdachlosigkeit sei ein "Schwerer Schicksalschlag" ist nachgewiesenerweise falsch und irreführend und lenkt ab von tatsächlichen Ursachen. In einer auf Eigentum und Profit beruhenden Gesellschaft, die auch Wohnungen als profitable Ware betrachtet, sind Zwangsräumungen und Wohnungslosigkeit eine notwendige Folge, während gleichzeitig hinreichen Wohnungen leer stehen. (vgl. "Eine Wohnung ist kein Aktienpaket" - Amtsgericht Berlin Mitte, Az: 25 C80/23) Statt dessen gibt das Land Berlin pro Tag (!) etwa 1 Million Euro dafür aus, dass obdachlose Menschen in zwangsgemeinschaftlichen Notunterkünften obdachlos bleiben (siehe Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Taylan Kurt (GRÜNE) vom 8. Mai 2024: https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-19096.pdf)

  8. Für jeden einzelnen in Pankow/ Prenzlauer Berg geräumten obdachlosen Menschen gäbe es im Zweifelsfall eine gute Übergangslösung etwa in Form eines eigenen Zimmers oder aber in Form von einem Safe-Place. Die katholische Ordensgemeinschaft der Karmelitinnen vom Göttlichen Herzen Jesu, besitzt ein großzügiges Hofgrundstück zwischen Pappelallee und Greifenhagener Straße - ein Ort, der hervorragend als Safe Place genutzt werden könnte - sowie das straßenseitige St. Josefsheim mit 70 Plätzen. (https://de.wikipedia.org/wiki/St._Josefsheim).
    Das Objekt in der Pappelallee 61 in Berlin Prenzlauer Berg, das 1891 von der Ordensgründerin Marie Tauscher erworben wurde, um dort ein "Heim für Heimatlose“, ein Haus für hilfsbedürftige und arme Kinder zu betreiben, steht seit 2019 leer.

  9. Berlin Pankow ist kein Einzelfall sondern diese Szenarien finden so oder so ähnlich überall in Deutschland statt. Das Szenario könnte beschreiben werden als ein Zusammenwirken von regelmässiger Vertreibung UND einer regelmässig unzureichenden Wohnungslosenhilfe. Nur sehr wenige wohnungslose Menschen werden über "Modellprojekte" wie Housing First in anmietbare Wohnungen vermittelt, während gleichzeitig hinreichend viele Wohnungen leer stehen. Zusammengefasst könnte davon gesprochen werden, dass wir es hier mit einer in der Summe obdachlosenfeindlichen Wohnungsnotfallhilfe zu tun haben. Eine bittere Erkenntnis.

Bleiben wir solidarisch, setzen wir uns weiter gegen Zwangsräumungen und Wohnungslosigkeit ein, es hilft ja alles nichts,

herzliche Grüße,

Stefan

 

PS: Noch eine Veranstaltungsankündigung in eigener Sache:

11.09.2024, 11:00 Uhr, Berlin - Öffentliches Mediengespräch - Wohnungslose Menschen sprechen am Tag der Wohnungslosen

Am 11.09.2024, dem Tag der Wohnungslosen, laden wir zu 11:00 Uhr in Berlin am Alexanderplatz ein zu einem öffentlichen Medien/Pressegespräch. Wohnungslose und ehemals wohnungslose Menschen werden Stellung nehmen zur aktuellen Lage wohnungsloser Menschen und ihre Positionen und Forderungen vortragen.

Weitere Einzelheiten in Kürze hier.

Solidarische Hinweise