"Die deutsche Gesellschaft bildet sich selbstzufrieden ein, sie tue doch schon genug für die Obdachlosen, und wer sich nicht helfen lasse, der sei halt selbst schuld. Aber das stimmt nicht."

Guten Tag,

heute möchte ich aufmerksam machen auf einen Artikel von Ronen Steinke, der unter dem Titel Von wegen selbst schuld am 18.01.2023 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist. Leider mit Bezahlschranke: https://www.sueddeutsche.de/meinung/kommentar-obdachlose-notunterkuenfte-wohnungslosenhilfe-kommunen-1.5734553

Ein großer Dank geht raus an Mathias Becker, Referent für soziale Benachteiligung und Existenzsicherung bei der Caritas in Freiburg, der mich auf diesen Beitrag hingewiesen hat.

Herzliche Grüße, Stefan

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Foto aus dem Artikel- Foto: Stephan Rumpf - SueddeutscheSchlaft nicht gut

Zehntausende leben auf der Straße - meist wegen Schicksalsschlägen. Die Kommunen müssten ihnen ein Bett verschaffen. Eigentlich.

Kommentar von Dr. Ronen Steinke, Rechtspolitischer Korrespondent, Jahrgang 1983, Jura- und Kriminologiestudium, im Völkerstrafrecht promoviert. Seit 2011 bei der Süddeutschen Zeitung, zwischendurch Gastwissenschaftler am Fritz-Bauer-Institut für Holocaustforschung. Buchautor. Twitter: @RonenSteinke, Email: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Selbst schuld, wer säuft! Selbst schuld, wer auf der Straße schläft! Niemand muss in Deutschland doch auf der Straße schlafen, niemand muss den Bürgerinnen und Bürgern mit seinem elendigen Anblick auf den Wecker gehen. Oder gar mit einem improvisierten Nachtlager, einem verschlissenen Schlafsack im Automatenraum einer Bankfiliale etwa, und dabei seinen Dreck dorthinein tragen, wo man es gern sauber hat. Und wer es dennoch tut, und wer dann vertrieben oder wegen Hausfriedensbruchs angezeigt wird: Siehe oben!

So zu denken, ist verführerisch, wenn jetzt im Winter die vielen obdachlosen Menschen, die zur Bevölkerung in Deutschland gehören, wieder sichtbarer werden. Es ist verführerisch, weil man sich mit solchen Sätzen moralisch selbst beruhigt, während man Bettlern nichts gibt, und weil man es sich mit solchen Gedanken leichter macht, Obdachlose von wärmenden Zufluchtsorten zu verbannen, wo sie die Shopping-Harmonie beeinträchtigen. Aber es ist falsch - eine wohlige Illusion zulasten Dritter.

Lieber spendieren sie ein Zugticket - in die nächste Stadt Von wegen selbst schuld. Es gibt in Deutschland nicht genügend passende

Übernachtungsplätze für obdachlose Menschen. Das ist eine empirische Tatsache, die von Hilfsorganisationen landauf, landab beklagt wird, vorneweg von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Mindestens 37 400 Menschen leben komplett auf der Straße, so lautet die eigene, vorsichtige Schätzung der Bundesregierung in ihrem Wohnungslosenbericht, der erst einen Monat alt ist. "Insgesamt fast die Hälfte" von ihnen, so lautet ein Schlüsselsatz in dem Bericht, hätten ihre Wohnung "aufgrund von Mietschulden verloren".

Es gibt nicht genügend passende Übernachtungsplätze, weil - erstens - viele Kommunen diese Menschen lieber mit einem Gratis-Zugticket in die nächste Stadt schicken, als für sie ein Pensionszimmer anzumieten. In der nächsten Stadt heißt es dann oft: Sorry, wir sind nicht zuständig. Das ist zwar rechtswidrig, weil Kommunen eigentlich jedem Menschen ein Dach über dem Kopf geben müssen, der unfreiwillig obdachlos ist. Das ist eine wichtige Regel des Ordnungsrechts, eine Errungenschaft. Das gilt für jeden, ganz gleich, ob er ein Aufenthaltsrecht genießt, das ist ein Grundrecht jedes Menschen, der andernfalls friert. Aber diese Regel wird laufend gebrochen. Ein Grund: Wo kein Kläger, da kein Richter.

Es bräuchte eigentlich 80 Millionen Kläger gegen diesen Missstand. Dass Menschen so sehr aus der Bahn geworfen werden, dass sie auf der Straße landen, hat fast nie etwas mit Faulheit zu tun. Meist sind es Erkrankungen, Unfälle, Schicksalsschläge, die man keinem Menschen wünscht, vor denen aber auch niemand ganz gefeit ist. Und dann? In der großen Stadt Berlin zum Beispiel gibt es kaum eine Unterkunft der Winternothilfe, in die man seinen Hund mitbringen kann. Wer aber niemanden mehr hat, der wird den Hund nicht draußen lassen und an die nächste Laterne anbinden. Also bleiben Menschen draußen.

Es gibt nicht genügend Übernachtungsplätze, weil - zweitens - die Notunterkünfte in den meisten Städten für die Bedürfnisse der Betroffenen ungeeignet sind. Menschen schlafen dort teils auf Stühlen, teils in Kirchenschiffen, teils in Fünf-Mann-Zimmern, teils bestehen die Unterkünfte aus Zelten. Das ist schon für jene schwierig, die nicht unter einer psychischen Erkrankung leiden. Für die 24 Prozent der Obdachlosen, die laut dem Bericht der Bundesregierung psychisch krank sind, ist es oft nicht zu meistern. Morgens um sieben oder acht Uhr müssen sie dann oft wieder hinaus ins Kalte - und sich abends um 18 Uhr wieder anstellen und versuchen, einen Platz zu bekommen.

Nicht die Betroffenen sind hier im Unrecht

Es gibt Menschen, die das nicht hinbekommen, sie geben den Kampf um diese Schlafplätze irgendwann auf. 40 Prozent gaben in einer Befragung durch Streetworker laut der Untersuchung der Bundesregierung an: "Zu viele Menschen für mich." Der zweite wichtige Grund, ebenfalls 40 Prozent, war die Angst um die eigene Sicherheit in meist beengten Einrichtungen. Wie soll man das nun finden: Wählerisch? Arrogant? Darf man als Bürger darüber den Kopf schütteln, wenn man diese Probleme selbst nicht hat? Nein, wenn es Menschen mit diesen Problemen nun einmal gibt und wenn Notunterkünfte schließlich gerade für Menschen mit diesen (bekannten) Problemen da sein sollten.

Wenn Kommunen in Deutschland sich entscheiden, obdachlose Menschen und ihre Probleme lieber wegzudrängen, oder nur ungenügende Alibi-Unterkünfte zur Verfügung zu stellen anstatt geeignete Einzelzimmer in Pensionen und Herbergen, dann sind sie im Unrecht, nicht die Betroffenen. Und wenn dann ein Mensch sich entscheidet, seinen verschlissenen Schlafsack im Automatenraum einer Bankfiliale auszurollen, dann nicht, weil es ihm zu gut geht.

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