Guten Tag,
heute habe ich erneut eine traurige Nachricht für Euch: Werner Franke ist gestern verstorben. Hier ist mein Nachruf.
Traurige Grüße, Stefan
Werner tauchte eines Tages in der Notübernachtung auf, denn er suchte einen Schlafplatz. Er sei von zu Hause weggelaufen, erzählte er uns. Ungewöhnlich für einen Mann, der damals um die 60 Jahre alt war. Das war irgendwann Anfang der 2000er Jahre. In der Notübernachtung vom Straßenfeger blieb er nur gute 14 Tage, dann fand er eine andere Lösung. Der Straßenzeitung allerdings blieb er treu. Zuerst versuchte er sich als Verkäufer, aber die abfälligen Bemerkungen, die er sich anhören musste, belasteten ihn sehr.
Als es aber darum ging, die Zeitungsausgabestelle am Bahnhof Zoo zu besetzen, erwies sich Werner als zuverlässiger Mitarbeiter, der klaglos die überlangen und schlecht honorierten Schichten im zugigen Vertriebsbus absolvierte und am Ende des Tages genau abrechnete. Zwischenzeitlich konnte er eine kleine 1-Zimmer-Wohnung in einem Nähe S-Bahnhof Sonnenallee beziehen, wo er bis zum Schluss lebte. Fotografien war ein Hobby von ihm: Als er sich wieder eine Kamera leisten konnte, war immer mal wieder ein Foto von ihm im Straßenfeger abgedruckt – gegen Honorar und Nennung der Rechte. Es schien, als hätte er sich ein neues soziales Umfeld aufgebaut.
Dass bei dem einzigen Raubüberfall auf die Ausgabestelle am Ostbahnhof ausgerechnet Werner Vertrieb hatte, war großes Pech und hat ihn deutlich mehr traumatisiert als er sich anmerken ließ. Erst Jahre später, in der Theatergruppe, die sich inzwischen im Kontext der Wohnungslosentreffen gebildet hat, konnte er diese Szene auf die Bühne bringen und so weiter für sich bearbeiten.
Die Einstellung vom Strassenfeger im Juni 2018 war nicht in seinem Sinne. Er hatte inzwischen feste Tage, an denen er Vertrieb machte, die Arbeit war zu einer Konstante in seinem Wochenrhythmus geworden. Zum Glück suchte die neu gegründete Karuna-Zeitschrift Menschen für die Zeitungsausgabe. Das war auch nicht schlecht, denn die Schichten waren erheblich kürzer und die Arbeitsbedingungen deutlich besser.
Werner verstand sich als Teil eines Gefüges von Menschen, die – alle auf ihre Weise – sich gegen Armut, Ausgrenzung und Ungerechtigkeit engagierten. Das war so beim Straßenfeger und später, als er Mitglied im von Jürgen Schneider gegründeten Armutsnetzwerk e.V. wurde, wo er zeitweilig auch Kassenwart war. Über die Jahre hinweg entstand so ein großer Kreis von Freunden und Bekannten, aber auch zahlreiche Kontakte zu Menschen aus Politik, Kunst, Musik und Journalismus.
Bei den von Jürgen Schneider und mir initiierten Wohnungslosentreffen war Werner ganz selbstverständlich von Anfang an dabei und brachte in den vielen Gesprächen und Diskussionen viele Ideen und Anregungen ein. Etwa die Praxis, die Abschlussandacht am letzten Tag immer gemeinsam mit den Teilnehmenden zu erarbeiten, Gebete, Texte und Lieder herauszusuchen, ging auf Werner zurück.
Auch die Forderung, wohnungslose Menschen konzeptionell aber auch praktisch in den Bau von Wohnungen einzubeziehen (nicht Wenige haben eine handwerkliche Ausbildung) wurde von Werner erstmalig formuliert und wurde so in das Ergebnisprotokoll des Treffens aufgenommen.
Mit vielen der Menschen, die er im Verlauf dieser Treffen kennen lernte, war er freundschaftlich verbunden und so war es für ihn selbstverständlich, in den Freistätter Verein Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e.V. einzutreten. In der Theatergruppe, die aus den Wohnungslosentreffen heraus entstand, war Werner eine treibende Kraft, aber auch eine Integrationsfigur. Das lag bestimmt an seiner Freundlichkeit, seinem ausgleichendem Wesen, seiner positiven Grundhaltung und seiner Bescheidenheit. Gleichwohl hatte Werner Humor, war redegewandt und diskussionsfreudig. Auch mit seiner Familie hatte er wieder gute Kontakte.
In den letzten Jahren wirkte Werner zufrieden mit sich und seinem Leben, und betonte auf unseren Treffen immer wieder, dass er ja mit seinen über 80 Jahren gewissermaßen der Alterspräsident sei.
Doch die Gesundheit machte ihm zuletzt immer mehr zu schaffen, die Krankenhausaufenthalte und anschließenden Reha-Behandlungen häuften sich, und Werner musste immer öfter Termine absagen. Dennoch hielt er bis zum Schluss telefonischen Kontakt zu vielen Menschen aus dem Netzwerk und hoffte bis zu Letzt, dass es gelingen könnte, das Theaterprojekt wieder aufleben zu lassen.
Jetzt spielt Werner auf einen anderen Bühne und in einem anderen Stück. Und wir, die zurückbleiben, müssen mit der Lücke fertig werden, die Du in unseren Köpfen und Herzen hinterlässt.
In Dankbarkeit,
Stefan Schneider,
damals Strassenfeger, heute Wohnungslosen_Stiftung
++++++++++++++++++++++++++++++++++
Das ist eine Nachricht von
Stefan Schneider / Wohnungslosen_Stiftung
Gesellschaft für Selbstvertretung wohnungsloser Menschen
und Empowerment auf Augenhöhe gemeinnützige UG (haftungsbeschränkt)
Freistellungsbescheid vom 04.04.2023
für gemeinnützige und mildtätige Zwecke
Steuernummer: 27 / 613 / 06656
Handelsregister-Nummer: HRB 251093 B
Amtsgericht Berlin Charlottenburg
Webseite: www.wohnungslosenstiftung.org
Newsletter: auf der Homepage oben links
Twitter: @wolo_stiftung
Facebook: www.facebook.com/Wohnungslosenstiftung/
Instagramm: www.instagram.com/wohnungslosen_stiftung/
Email-Verteiler: wohnungslosen_netzwerk@lists.riseup.net
Spendenkonto: Wohnungslosen_Stiftung
IBAN: DE60 3702 0500 0001 8534 01
BIC: BFSWDE33XXX
Bank: Sozialbank
PayPal: paypal.me/wolostiftung
Die Wohnungslosen_Stiftung ist der Interessenverband von Menschen mit Wohnungslosigkeitserfahrung im deutschsprachigen Raum. Wir setzen uns dafür ein, dass Menschen mit Wohnungslosigkeitserfahrung sich austauschen, vernetzen und ihre Anliegen angstfrei äußern können.
In unserem offenen Netzwerk engagieren sich über 120 Menschen mit eigener Erfahrung, Gruppen, Initiativen, Bündnisse, Vereine und Unterstützer:innen – gemeinsam und auf Augenhöhe. Zweimal im Jahr organisieren wir offene Netzwerktreffen an wechselnden Orten, um den Austausch und die Zusammenarbeit zu stärken, politische Forderungen zu erarbeiten und gemeinsame Aktionen zu planen. Unser kostenloser Newsletter erreicht über 6.000 Interessierte und informiert unregelmäßig über Themen wie Wohnungslosigkeit, Empowerment und Selbstvertretung.
Wir sind gemeinnützig und mildtätig. Mit Deiner Spende – ob einmalig oder monatlich – hilfst Du uns, unsere Arbeit stabil und unabhängig fortzuführen. Gemeinsam können wir etwas bewegen!